Demokratie nicht systemrelevant

Mit seiner heutigen Entscheidung hat das VG Dresden deutlich gemacht, dass ein effektiver Rechtsschutz gegen Eingriffe in Grundrechte nicht krisenfest ist. Es hält das Verbot jeglicher Versammlungen in Zeiten der Pandemie für offensichtlich rechtmäßig.


Ausgangspunkt ist die allgegenwärtige – nicht zu leugnende – Gefahr, dass eine schnelle Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu einer Überlastung der Gesundheitssysteme führen
und so eine große Zahl an Menschenleben kosten würde.

Angesichts dieser Bedrohungslage zieht sich das Gericht aus der Prüfung von Eingriffen weitgehend zurück:


Zwar haben sich die gewählten Mittel bislang nicht als zwingend geboten erwiesen. In Anbetracht der Dringlichkeit, eine Bekämpfungsstrategie zu entwickeln, bleibt derzeit weder
Zeit noch eine tatsächliche Möglichkeit zu einer abschließenden Evaluation der eingesetzten Mittel. Es hat daher bei der im Gefahrenabwehrbereich gebotenen und in der Regel nur
möglichen Prognose zu verbleiben, die sich – wie ausgeführt – allerdings im konkreten Fall auf umfassende fachkundige Beratung stützen kann. Vor diesem Hintergrund und in
Anbetracht der Gefährdung einer Vielzahl von Menschen haben die Interessen des Antragstellers zurückzustehen.

Die Experten übernehmen das Regiment, für juristische Überlegungen ist kein Platz mehr.


Angegriffen wurde das totale Versammlungsverbot durch die Allgemeinverfügung des sächsischen Ministeriums für Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Während Bremen die
Versammlungsfreiheit unangetastet lässt, Berlin, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein Ausnahmen vom einem generellen Versammlungsverbot zulässt, sind in Sachsen – wie in den
meisten Bundesländern – derzeit alle Versammlungen verboten. Der Antragsteller wollte sich mit einer überschaubaren Zahl anderer Menschen versammeln, um auf die prekäre Lage
Geflüchteter und Strafgefangener gerade in der Pandemie aufmerksam zu machen. Es sollte nicht öffentlich zu der Versammlung aufgerufen werden. Ein Mindestabstand der Teilnehmer
sollte auf den Weiten des Dresdner Postplatzes eingehalten, Mundschutz getragen werden.


Doch all dies vermochte das VG Dresden nicht davon überzeugen, das allgemeinverfügte Versammlungsverbot als im konkreten Fall unverhältnismäßig zu betrachten:

Wie der Antragsteller zu Recht anmerkt, zielen die Regelungen nicht darauf ab, sämtliche Kontakte auszuschließen. Solche Regelungen wären im Übrigen – gerade unter
Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – auch nicht haltbar, denn ungeachtet der im Einzelfall erforderlichen Schutzmaßnahmen gegen die aktuelle Pandemie
müssen sowohl die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen als auch der Fortbestand der Wirtschaft in der aktuellen Situation sichergestellt bleiben. Vor diesem
Hintergrund zielen die Regelungen vor allem darauf ab, die zwischenmenschlichen Kontakte auf das zwingend notwendige Mindestmaß zu beschränken, um dem exponentiellen
Anstieg der Neuinfektionen entgegenzuwirken.

Deutlicher geht die Nichtachtung der Versammlungsfreiheit als grundlegendem Pfeiler des demokratisch verfassten Gemeinwesens nicht. Während jede berufliche Tätigkeit im Prinzip
uneingeschränkt gestattet bleibt, da ja der „Fortbestand der Wirtschaft“ gesichert werden muss, sind Versammlungen eben nicht „zwingend notwendig“, sprich: nicht systemrelevant.

Denn: der Einzelne darf sich ja noch auf facebook und twitter tummeln:


Zwar mag es gerade in Zeiten der Krise für die demokratische Gesellschaft unabdingbar sei, dem Einzelnen Möglichkeiten zur Teilhabe am politischen Diskurs zu eröffnen. Im vorliegenden Fall ist jedoch zu beachten, dass nicht sämtliche Formen der Meinungskundgabe und des politischen Diskurses beschränkt sind und über das Abhalten einer
Versammlung hinaus auch andere Möglichkeiten bestehen, in den politischen Diskurs zu treten.

Völlig verfehlt sind dann die Ausführungen des VG Dresden, wenn es darlegt, dass dem Interesse des Antragstellers, sich zu versammeln, mangels „Strahlkraft“ der Versammlung
geringes Gewicht zukäme:


Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die angezeigte Versammlung aufgrund der vom Antragsteller er-warteten geringen Teilnehmerzahl und insbesondere bei Beachtung der
vom Antragsteller vorgetragenen Schutzmaßnahmen (Einhaltung des Mindestabstandes von einem Meter, keine Flugblätter) von vornherein bereits eine geringe Außenwirkung und
Strahlkraft entfaltet. Zudem wird bei Einhaltung des Mindestabstandes eine interne Kommunikation, die gerade Wesensinhalt einer Versammlung ist, nur schwer möglich sein, so
dass auch fraglich ist, in-wieweit der Versammlungszweck unter den gegebenen Umständen überhaupt erreicht werden kann.

Allein schon der der Charakter der Versammlungsfreiheit als minderheitsschützendes Recht verbietet es, die Größe einer Versammlung oder ihre Chance, tatsächlich Einfluss auf die
öffentliche Meinung zu nehmen, als abwägungsrelevantes Kriterium heranzuziehen.


Es mag nicht jede Krise damit verbunden sein, dass die physische Nähe von Menschen eine reale Gefahr für Menschenleben darstellt. Gleichwohl zeigt die Nonchalance, mit der das in hehrer Verfassungslyrik als „unentbehrliches Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ (BverfG, Brokdorf-Entscheidung) besungene Grundrecht der
Versammlungsfreiheit höheren Zwecken geopfert wird, dass im Ernstfall auf die staatlichen Garantien wenig zu geben ist. Die Versammlungsfreiheit wurde jedenfalls durch die etwa 150 Menschen, die letztes Wochenende in Berlin achtsam und verantwortungsvoll ihren Protest für Geflüchtete an den Außengrenzen, gegen Zwangsräumungen und Kapitalismus auf die
Straße getragen haben, stärker geschützt, als durch die Gerichte.